Page 38 - Ärzteblatt Sachsen, Juni-Ausgabe 2024
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MEDIZINGESCHICHTE




        Augen sehn . […] – Schrecken über Schre- beider Lungenflügel fest . Seiner Emp- Berlin . Freilich verschlimmerte sich dort
        cken .“ In Berlin löste er die Verlobung  fehlung folgend entschloss sich Kafka,  im turbulenten Inflationsjahr 1923
        zwar, versöhnte und verlobte sich spä- ein Sanatorium in der Hohen Tatra auf- seine Tuberkulose . Er begann zu hus-
        ter aber erneut mit Felice Bauer [4, 8] .   zusuchen . Erst hier im Kontakt mit  ten, hatte hohes Fieber, nahm erheblich
                                            anderen  Patienten  wurde  ihm  der  an Gewicht ab, verspürte ein Brennen
        Sein Verhältnis nicht nur zu dieser Frau  schicksalhafte Charakter seiner Krank- im Hals und litt unter bedenklichen
        war problematisch, aber der für ihn  heit voll bewusst, und er glaubte nun  Stimmstörungen .  So  blieb  ihm  keine
        „ungeheuer maßgebende Mensch“ stell- nicht mehr, dass er gesund werden  Wahl: Er musste erneut eine Heilstätte
         te der erfolgreiche, aus einfachen Ver- wird [3, 10] . Seine Aussichten wären im  aufsuchen .
        hältnissen aufgestiegene, übermäch- Zeitalter der Tuberkulostatika günstiger
        tige Vater dar . Im „zuschnürenden Ring“  gewesen, wenngleich die Behandlung  Der Dichter wählte zunächst das Sana-
        seines Einflusses kam er sich „vollstän- langwierig und infolge zunehmender  torium Wienerwald . Da er  nur noch
        dig wehrlos“ vor und war vom „Gefühl  Resistenzen inzwischen schwieriger  flüstern konnte, bestand dringender
        der  Nichtigkeit“ und von Schuldgefüh- geworden ist [5] . Der Dichter lernte in  Verdacht, dass sich die Tuberkulose
        len  beherrscht .  Da er  glaubte, dem  der Heilanstalt den Medizinstudenten  inzwischen auf den Kehlkopf ausge-
        Vater nur so zu genügen, studierte er  Robert Klopstock (1899 – 1972) kennen,  breitet hatte . Nachdem ihm Codein und
        Jura, übte aber seinen „Brotberuf“ in  der ihm zum treu-dienenden Begleiter  Pyramidon kaum Linderung verschaff-
        einer Arbeiter-Unfallversicherungsan- wurde . Während der Kur nahm er lang- ten und Schluckbeschwerden auftraten,
        stalt dennoch sehr erfolgreich aus [9] .  sam an Gewicht  zu, der  Husten  ver- wurde  er  in  die  laryngologische  Klinik
        Übrigens fuhr  er, der  inzwischen  minderte  sich  und auch das  Fieber  des allgemeinen Krankenhauses in
        20-    Jährige noch im Jahre 1903 zusam- schwand . Dennoch wurde ihm am 13 .  Wien verlegt, die damals von Professor
        men mit den Eltern in den Urlaub, den  September 1921, wenige Monate nach  Markus Hajek (1861 – 1941) geleitet
        er freilich unterbrechen musste, um sich  seiner Rückkehr nach Prag, von seinem  wurde . Hier wurde die Kehlkopftuber-
        in der Naturheilanstalt des Dr . Heinrich  Arzt ein erneuter Aufenthalt in einem  kulose bestätigt, obwohl die Spiegelung
        Lahmann (1860 – 1905) in Dresden be - Lungensanatorium empfohlen . Kafka  des Kehlkopfes ohne Kokain nicht recht
        handeln zu lassen .                 hoffte jedoch während eines Urlaubs in  gelingen wollte . Ein internistischer
                                            Spindlermühle auf Besserung, verfiel  Konsiliarius fand bei der Auskultation
        Auch später besuchte Kafka unter- dort jedoch in Grübeleien . Das Kommen  Bronchialatmen in einem umschriebe-
        schiedliche Naturheilanstalten und  der Lungenentzündung fürchtend schrieb  nen Bezirk, sodass ein tuberkulöses
        lehnte es ab, nach der 1917 aufgetrete- er  in  sein Tagebuch:  „Jedem  Kranken  Infiltrat in der Lunge anzunehmen war .
        nen  Lungenblutung ein Sanatorium  sein Hausgott, dem Lungenkranken der  Die Kehlkopftuberkulose behandelte
        aufzusuchen,  sondern  fuhr  zu  seiner  Gott des Erstickens .“ Da nach dem  man, wie damals allgemein üblich, mit
        Schwester Ottla (1892 – 1943), die ein  ärztlichen Gutachten eine Heilung in  einer  Menthol-Lösung,  die  auf  die
        kleines  Landgut  bewirtschaftete .  Kör- nächster Zeit undenkbar erschien, wur- Stimmlippen geträufelt wurde, verbun-
        perlich erholt überstand er 1918 sogar   de er am 30 . Juni 1922 pensioniert . Zu  den  mit  einer  Schweigekur .  Darunter
        die spanische Grippe . Die vom Vater als  Beginn des Jahres 1923 plagte ihn eine  trat  bei  Kafka eine temporäre Besse-
        nicht standesgemäß abgelehnte Bezie- derartige Schlaflosigkeit, dass er, ein  rung ein . Er verließ das Hospital jedoch
        hung, die er danach mit Julie Wohryzek  radikaler Gegner der Schulmedizin, zu  auf eigenen Wunsch und begab sich in

        (1891 – 1944) einging, scheiterte frei - Schlafmitteln griff .          das kleine, aber behagliche Sanatorium
        lich  ebenso wie diejenige mit  Milena                                  des Dr . Hugo Hoffmann (1862 – 1927)
        Jesenská  (1896 – 1944), obwohl sich  Kafkas letzte Liebe, ein tragisch   nach Kierling . Dora Diamant und der
        Milena als erste für seine Texte interes- endender Ausbruchsversuch     mit ihm befreundete Medizinstudent
        sierte .                            Eine Reise in das Ostseebad Graal- Robert Klopstock begleiteten ihn . Hier
                                            Müritz verschaffte ihm Erleichterung,  ging es ihm zunächst relativ gut . Bald
        Im Jahre 1920 zeigte sich bei ihm  zumal er auf Dora Diamant (1898 –  aber verschlechterte sich sein Zustand,
        erneut ein „zartes Fieber“, weshalb er  1952) traf, seine letzte Freundin . Mit ihr  sodass er das Bett nicht mehr verlas-
        in Meran Genesung suchte, wonach  unternahm er einen späten Ausbruchs- sen konnte . Die Schluckbeschwerden
        aber keine andauernde Besserung ein- versuch aus dem altstädtischen Prag,  und der Husten nahmen zu und er war
        trat . Am 14 . Oktober 1920 stellte der  dem Symbol für seine Abhängigkeit  nur noch in der Lage, breiige Kost zu
        Anstaltsarzt Dr . Kodym Infiltrationen  vom Elternhaus, und zog mit ihr nach  sich zu nehmen . Die Menthol-Einträu-


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