Page 37 - Ärzteblatt Sachsen, Juni-Ausgabe 2024
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MEDIZINGESCHICHTE



        Franz Kafkas Tuberkulose –

        oder der „Gott des Erstickens“





        Ein Beitrag zu seinem 100. Todestag



        Am 4 . September 1917 schrieb Franz                                     Dauer beherrscht . Dies geschieht durch
        Kafka an seinen Leipziger Verleger Kurt                                 die Entwicklung einer T-Zellenimmuni-
        Wolff (1887 – 1963), dass seine seit                                    tät, die das intrazelluläre bakterielle
        Jahren mit Kopfschmerzen und Schlaf-                                    Wachstum mindert, sowie durch  die
        losigkeit angelockte Krankheit plötzlich                               Ausbildung eines tuberkulösen verkä-
        ausgebrochen sei . Dennoch, so hoffte                                   senden Granuloms . Dieser spezifische
        er, falls seine Kräfte aushielten, seinem                               Herd enthält ruhende Bakterien, wes-
        Förderer bessere Arbeiten als die Er -                                  halb  man von  latenter Tuberkulose
        zählung „In der Strafkolonie“ zuschicken                                spricht, von der gegenwärtig ein Viertel
        zu können, deren Veröffentlichung zu -                                  der Weltbevölkerung betroffen ist . Ob
        sammen mit anderen Erzählungen dem                                      das Stadium der Latenz erreicht wird,
        Verleger zu risikoreich erschien [1] . Die                              hängt von der Abwehrkraft des Körpers
        Verbindung zu Kurt Wolff bestand schon                                  ab . Diese ist von der Ernährung, Mili-
        seit dem Jahre 1912 und war von des-                                    eufaktoren, bestehenden Krankheiten,
        sen Compagnon Ernst Rowohlt (1887 –                                 © Archiv Klaus Wagenbach  aber auch von psychischen Faktoren
        1960) vermittelt worden, den Kafka in                                   abhängig . Ungelöste seelische Kon-
        Leipzig mehrfach getroffen hatte [2] .                                  flikte begünstigen den Ausbruch der
                                            Franz Kafka (1883 – 1924)           Krankheit wie bei Kafka [5–7] . Er ver-
        Die tuberkulöse Lungenblutung                                           suchte sich in dieser Zeit endgültig von
        des Dichters und ihre Ursachen                                          seiner in Berlin wohnenden Freundin
        Den nächtlichen Ausbruch des Leidens,  Kafka, der von der schulärztlichen Me - Felice Bauer (1887 – 1960) zu trennen,
        bei dem es sich um eine Tuberkulose  dizin wenig hielt und die körperliche  wozu sich der sensible Dichter erst im
        handelte, empfand der Dichter, wie er in  Krankheit vor allem als eine Manifesta- Dezember des Jahres 1917 durchringen
        seinem Brief an Kurt Wolff bemerkt,  tion seiner seelischen Leiden und Kon- konnte .  Er hatte  sie 1912 kennenge-
        fast als Erleichterung, obwohl er eine  flikte betrachtete, schrieb am 15 . Sep- lernt und sich im April 1914 mit ihr ver-
        solche Menge Blut ausgehustet hatte,  tember 1917 sich selbst befragend in  lobt, beabsichtigte, sie zu heiraten,
        dass sein  Dienstmädchen,  als sie am  sein Tagebuch: „Ist die Lungenwunde  bereute diesen Entschluss jedoch bald
        Morgen die Folgen des Blutsturzes sah,  nur ein Sinnbild wie du behauptest,  und wollte sich noch im gleichen Jahr
        zu ihm sagte: „Herr Doktor, mit ihnen  Sinnbild der Wunde, deren Entzündung  wieder von ihr trennen . Vor der Fahrt
        dauert’s nicht mehr lang“ [1, 3] . Zu die- F .“ (Felice), die Verlobte Kafkas, „und  nach Berlin, wo ihn ein unangenehmes
        sem Zeitpunkt war der am 3 . Juli 1883  deren Tiefe Rechtfertigung heißt, ist  klärendes Gespräch mit Felice erwar-
        geborene Sohn des jüdischen Kauf- dies so, dann sind auch die ärztlichen  tete, besuchte Kafka Dresden und sei-
        manns Hermann Kafka (1852 – 1931)  Ratschläge (Licht, Luft, Sonne, Ruhe)  nen Vorort Hellerau und versuchte ver-
        und seiner Frau Julie (1856 – 1934) ge - Sinnbild . Fasse dieses Sinnbild an“ [4] .   geblich, seinen Verleger  in  Leipzig  zu
        rade 34 Jahre alt . Dennoch suchte er                                   treffen . Wie sehr den von Schuldgefüh-
        erst nach erneut aufgetretenen Hämop- Mit diesen Überlegungen hatte der  len gepeinigten Schriftsteller schon
        tysen und dem intensiven Drängen sei- Dichter nicht ganz unrecht . Denn die  dieser erste Trennungsversuch belas-
        nes Freundes Max Brod (1884 – 1968)  Tuberkulose wird von Bakterien ausge- tete und verwirrte, geht aus seinen
        einen Arzt auf, der einen „Spitzenka- löst, die durch Tröpfcheninfektion über  Tagebucheintragungen im Vorfeld der
        tarrh“ feststellte, eine damals übliche  die Atemwege in die Lunge gelangen .  Aussprache hervor . Dort notiert er:
        bewusst bagatellisierende Umschrei- Die Entzündung wird aber von 90 bis 95  „Konnte nicht fragen, nicht antworten,
        bung für die Tuberkulose [3] .      Prozent der Infizierten vorerst oder auf  nicht mich bewegen, knapp noch in die



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