Page 27 - Ärzteblatt Sachsen, Juni-Ausgabe 2024
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senen Behandlung von Kriegsverwun- rung dieses Abkommens erst 1929 in bereits mit dem retardierten Präparat
deten eine große Zahl von betroffenen der Weimarer Republik mit dem ersten behandelt) und politischer Einfluss-
Soldaten gab, die morphinabhängig und Opiumgesetz, das 1971 in der BRD nahme blieb das Medikament auf dem
damit zu sogenannten „Morphinisten“ durch das in revidierter Form noch Markt [9] . In der Kombination mit den
geworden waren – im 20 . Jahrhundert heute geltende Betäubungsmittelge- 1986 erstmalig publizierten WHO-Emp-
wurde hierfür der Begriff „soldier’s setz abgelöst wurde [8] . fehlungen zur Behandlung von Tumor-
disease“ eingeführt [2] . Dennoch stellte Erst im Verlauf des 20 . Jahrhunderts schmerzen, in denen im Stufenschema
noch 1895 die British Royal Opium entwickelte sich ein Verständnis dafür, der Einsatz von Opioiden empfohlen
Commission fest, dass Opiumgebrauch dass es sich bei von „Morphinismus“ wurde, brachte die Einführung eines
weder „physischen noch moralischen Betroffenen nicht um ein rein juristisch retardierten Präparats durchaus Vor-
Verfall bewirke“ [5] . zu regulierendes Problem, sondern um teile für Krebspatienten und verbes-
eine behandlungsbedürftige Suchter- serte die Versorgung von Tumor-
Auf der Suche nach weniger sucht- krankung handelte, die unter anderem schmerzpatienten nachhaltig . Darüber
erzeugenden Substituten wurde 1874 in ausgewählten Fällen auch eine hinaus stieg die Akzeptanz für den Ein-
erstmalig Diacetylmorphin syntheti- rechtssichere Möglichkeit zur kontrol- satz von Opioiden in der Behandlung
siert; 1897 entwickelte der Chemiker Dr . lierten Substitution erfordert . von Tumorschmerzen weltweit .
Felix Hofmann (1868 – 1946) Acetylie- Geschichtlich interessant ist die gegen-
rungsverfahren zur Herstellung der läufige Entwicklung der beiden zeitgleich Die zunehmende Anwendung dieser
Acetylsalicylsäure (Aspirin®) und von entwickelten Medikamente Heroin und wichtigen Medikamentengruppe hatte
Diacetylmorphin (Heroin®), die die Aspirin . Aufgrund seines ausgeprägten auch Schattenseiten . Anfang der
industrielle Produktion dieser Substan- Suchtpotenzials ist Heroin inzwischen 1990er Jahre wurden zuerst durch den
zen durch die Elberfelder „Farbenfabri- ein nicht verkehrs- und nicht verschrei- Neurologen R . K . Portenoy aus New
ken vorm . Friedr . Bayer & Co .“ ermög- bungsfähiges Betäubungsmittel . Da - York, kurz danach aber auch von dem
lichte [6] . Die Firma Bayer bewarb gegen ist Aspirin, dessen Beliebtheit deutschen Anästhesisten M . Zenz aus
Heroin neben vielen weiteren Indikati- unter anderem auf die effektive Linde- Bochum, Fallserien publiziert, in denen
onen als Schmerz- und Hustenmittel rung der Allgemeinsymptome der Spa- berichtet wurde, dass auch Patienten,
sowie als nicht süchtig machendes nischen Grippe zurückgeht, trotz seines die an chronischen, nicht-tumorbeding-
Medikament gegen die Entzugssymp- erheblich organschädigenden Potenzi- ten Schmerzen litten, von einer Opioid-
tome von Morphin und Opium . Diese als weiterhin eines der weltweit meist- behandlung profitieren würden und es
Annahme bestätigte sich nicht, ganz im verwendeten Schmerzmittel über haupt . wurde die Frage in den Raum gestellt,
Gegenteil wurde die Heroinabhängig- ob es ethisch vertretbar sei, Patienten
keit vor allem in den USA zu einem Bis zur Mitte des 20 . Jahrhunderts eine effektive Behandlung vorzuent-
wachsenden gesellschaftlichen Pro- wurden zahlreiche weitere Opioide halten, nur, weil sie keine Tumorerkran-
blem . Heroin war bis zu diesem Zeit- synthetisiert und in der klinischen Ver- kung hatten [10–12] . Zahlreiche Publi-
punkt ohne Einschränkungen durch sorgung eingesetzt (unter anderem kationen in der Folge belegten die Ef -
ärztliche Verordnungen in den unter- Oxycodon 1915, Hydromorphon 1926, fek tivität von Opioiden bei den unter-
schiedlichsten Verabreichungsformen Pethidin 1939) [2] . Im Jahr 1983 war schiedlichsten nicht-tumorbedingten
erhältlich und auch breit zugänglich, erstmalig ein retardiertes Morphinprä- Schmerzerkrankungen und entspre-
was einem nichtmedizinischen Ge brauch parat (MS Contin®) verfügbar . Durch chend wuchs auch in der Ärzteschaft
Vorschub leistete [2] . Diese frühe dessen verlängerte kontinuierliche die Bereitschaft, diese Substanzen zu -
zweite „Epidemie” eines Opioids – nach Wirkstoffabgabe konnte so eine rele- nehmend breiter einzusetzen . Begleitet
den Erfahrungen aus den Kriegen – vante Verbesserung der Versorgungs- wurde dies von intensiven Marketing -
führte nicht zuletzt auch im Zuge der situation von Krebspatienten erzielt strategien seitens der pharmazeuti-
Prohibition 1914 zu ersten regulatori- werden [2] . Interessanterweise unter- schen Industrie und nicht evidenzba-
schen Beschränkungen in den USA [7] . lief die produzierende Firma in den USA sierten Annahmen, wie „retardierte
Das erste internationale Opiumabkom- den Zulassungsprozess der Arzneimit- Opioide führen in der Schmerztherapie
men von 1912 sollte den Gebrauch von telbehörde und brachte die Substanz nicht zur Abhängigkeit”, „wenn ein Opi-
Opiumalkaloiden, unter anderem auch ohne Zulassung durch die FDA in oid den Schmerz nicht ausreichend
Morphin und Diacetylmorphin regeln . Umlauf . Aufgrund der so geschaffenen reduziert, ist dies ein Problem der zu
In Deutschland erfolgte die Ratifizie- Tatsachen (viele Patienten wurden geringen Dosierung”, die von vielen
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