Page 31 - Ärzteblatt Sachsen, Juni-Ausgabe 2024
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LESERBRIEFE
Editorial „Sind wir von Sinnen?“
Leserbriefe zum Editorial „Sind wir von Sinnen?“ von Dr. med. Thomas Lipp im „Ärzteblatt Sachsen“,
Heft 4/2024, Seite 4
Sind wir von Sinnen oder nach einem Diskurs in seinen Auswirkungen auf zur eigenen Meinung von etlichen als
aktuellen Buchtitel: Sind wir aus der den Einzelnen mit dem vergleichbar ist, Ausgrenzung gewertet wird, die sich
Zeit gefallen? was Menschen in der DDR drohte, vom Widerspruch adressiert fühlen .
Dr . Lipp beschreibt sehr treffend die wenn sie an den falschen Stellen eine Dabei ist doch der Diskurs unter Demo-
persönliche und gesellschaftliche Kom- von der Staatsdoktrin abweichende kraten das, was uns voranbringt . Es
munikationsrealität, den Zeitgeist . Ein Meinung äußerten? Was wohl all jene scheint auch eine allgemeine Überfor-
taktisches Schweigen verhindert oft davon halten, denen der Zugang zu derung unserer Gesellschaft vorzulie-
einen offenen Bruch mit den Menschen höherer Bildung trotz ausgezeichneter gen, weil es so langsam dämmert, dass
in seinem Umfeld . Es ist nicht mehr nur Leistung aus politischen Gründen ver- wir womöglich unsere Komfortzone
vorauseilender Gehorsam, sich in Wort weigert wurde, die ihren Arbeitsplatz verlassen müssen .
und Schrift selbst zu zensieren, es ist verloren, weil sie in einem anderen
der Schutz vor Ausgrenzung, Abberu- Land leben wollten, die in Bautzen oder Dazu zwingen uns diverse Krisen und
fung und Häme in den sozialen Medien . Hoheneck einsitzen mussten, weil sie Kriege auf der Welt und auch die gesell-
Die Gleichbehandlung aller Hilfsbedürf- sich für eine offenere Gesellschaft ein- schaftliche Entwicklung im eigenen
tigen in unserer ärztlichen Tätigkeit setzten oder offenkundige Probleme Land . Die vielen Menschen, die nie eine
und die Achtung der Selbstbestimmung laut benannten . Wie vielen unserer Komfortzone hatten, leiden immer als
des Patientenwillens ist das Grundver- Kollegen wurde ihr Studium nur durch erste . Sie aufzufangen, dafür stehen
ständnis unseres Berufes . Verpflichtung für drei oder vier Jahre Extremisten aller denkbaren Arten
Ob des neuen Genfer-Gelöbnisses oder Dienst in den sogenannten bewaffne- gerne bereit .
der traditionelle Eid des Hippokrates, ten Organen gestattet . Ich persönlich Klarzustellen, dass diese für die Lösung
immer ist der Arzt der Helfer . durfte nur deshalb Medizin studieren, der Probleme keine einzige praktikable
Wo bleibt der politische Helfer, die Jour- weil in der Zusammensetzung des Stu- Lösung parat haben und echte Alterna-
nalisten, auch diesen wird ein Berufs- dienjahres die soziale Herkunft „sons- tiven aufzuzeigen, ist Aufgabe aller
ethos vermittelt . tige" auch irgendwie abgebildet werden Demokraten . Trotz der Vielzahl drän-
Der Auftrag, umfassend mit weit- musste . gender und ungelöster Themen würde
schweifendem Blick zu analysieren und Mitschüler, die gleiche oder bessere ich es aber nicht als „Sprech- und
zu berichten, wurde und ist wieder auf Noten hatten, wurden hingegen abge- Denkverbote" bezeichnen, wenn sich
den genannten Schießscharten-Blick lehnt . Das alles waren tatsächlich Aus- Menschen für ihre Auffassung von Zu -
verengt . wirkungen auf das persönliche und kunft leidenschaftlich engagieren . Im
Danke Dr . Lipp für den Mut, diesen Arti- berufliche Umfeld, die von den heutigen Übrigen sind selbst unter Berücksichti-
kel so treffend zu formulieren und Dank Spielregeln der freiheitlich-demokrati- gung von strafgesetzlichen Verboten
an die Redaktion für die Veröffentli- schen Grundordnung allerdings maxi- bestimmter sprachlicher Ausdrücke die
chung auf der ersten Seite . mal weit entfernt sind . Es ist vielmehr Gedanken immer noch frei . Und selbst
in unserer liberalen Demokratie und wenn der eigene innere Kompass eine
Dipl .-Med . Reinhard Mütze, Taucha gerade in Sachsen beispielsweise viel- andere Richtung anzeigen sollte, so
fach folgenlos, dass Politiker symbo- verpflichten uns diverse Artikel unse-
Sehr geehrter Herr Dr . Lipp, lisch an Galgen aufgeknüpft werden, res Grundgesetzes dazu, auch und ge -
Ihr Editorial im „Ärzteblatt Sachsen”, dass verfassungsfeindliche Symbole rade als Ärzte die Stimme zu erheben,
Heft 4/2024, habe ich mehrfach lesen gezeigt werden oder Barrikaden bren- wenn Menschen wegen ihrer Haut-
müssen . Ich wollte es auf keinen Fall nen, dass Journalisten tätlich angegrif- farbe, Religion oder sexueller Identität
falsch verstehen . Nun habe ich aber fen werden und dass Wissenschafts- entwürdigt, diffamiert oder ausge-
dennoch Fragen und Anmerkungen . feinde in aller Öffentlichkeit gefährli- grenzt werden .
chen Unsinn verbreiten dürfen .
Sind Sie tatsächlich der Auffassung, Vielmehr scheint es aber heute so zu Ich persönlich kenne auch keine „Denk-
dass der derzeitige gesellschaftliche sein, dass schon der bloße Widerspruch und Sprechstandards“, die mir eine
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